ZoominZoomout, 7.4.2023, Karfreitag

Manchmal liest man darüber, dass die Aufführung von Bachs Johannespassion für die Sängerinnen und Sänger nicht nur eine physische Herausforderung ist, sondern auch emotional sehr ergreifend.
Gestern haben wir es wieder erlebt mit der Briesnitzer Kantorei:
Nach drei Stunden Orchesterproben und einer kurzen Pause die Aufführung.
Ich will von zwei Momenten erzählen. Nach Jesu Tod am Kreuz und seinen letzten Worten „Es ist vollbracht“ erklingt die wundervolle Alt-Arie, begleitet von der traurigen Musik einer Viola da Gamba. Schließlich hört der Chor, der auf der steilen Chortreppe sitzt die Erzählung des Evanglisten: „Und neiget das Haupt und verschied“. Der Dirigent auf dem Pult, lässt mit einer Geste die Musik anhalten und faltet die Hände. Indes wurde die Kirchentür geöffnet, man spürt den kühlen Hauch durch die Kirche gehen und schon läuten die Glocken. Man sieht die Köpfe des Chores gesenkt und ich kann nur berichten von Gefühlen großer Ergriffenheit.
Nachdem die letzten Stücke der Johannespassion verklungen sind, wiederholt sich das noch einmal beim Schlusschoral und den letzten Takten, die beinahe hymnisch rufen: „Herr Jesu Christ, erhöre mich, ich will dich preisen ewiglich.“ Dann setzt das große Geläut ein und die Kirche verharrt in Stille.

Foto: Fang Wang

ZoominZoomout, 2.4.2023

Die Geheimnisse der Johannespassion 2

Eine Figur namens Ahasver findet sich nicht im Johannesevangelium, sie steht in gar keinem Evangelium, sie stammt aus alten Volkssagen. Die erzählen vom Schuhmacher Ahasver aus Jerusalem. Der Leidensweg Christi, der sein eigenes Kreuz auf der Schulter zur Hinrichtungsstätte nach Golgatha tragen musste,  führte direkt an Ahasvers Haus vorbei. Es heißt, die tiefe Schulterwunde, die von den Balken des Kreuzes stammte, sei die schmerzhafteste aller Wunden Jesu gewesen. Jesus blieb stehen vor Ahasvers Haus. Ahasver aber, der den Reformer Jesus für einen Ketzer hielt, trieb Jesus mit Faustschlägen weiter. Jesus aber sah ihn an und sprach: „Ich will stehen und ruhen, du aber sollst gehen.“

Und so musste Ahasver fortan, wie von einem Fluch getrieben durch die Jahrhunderte und die Welt wandern, und er fand keine Ruhe, noch nicht einmal den Tod.

Dieser Ahasver war also einer jener Wutbürger, die im Chor fordern und schreien: „Kreuziget! Kreuziget ihn!“

Welche Wandlungen er auf seiner rastlosen Wanderung erfährt, darüber gibt es zahlreiche Varianten in der Literatur, bei Hans-Christian Andersen, Jorge Luis Borges, Gabriel Garcia Marques, Leo Perutz,  Stefan Heym und bei vielen anderen.

Und … Er spielt eine Rolle in meinem neuen Romanprojekt. Davon wird allerdings noch nichts verraten.

ZoominZomout – 14.3.2023

Die Geheimnisse der Johannespassion 1

Jeder kennt die Stellen in Bachs Johannespassion, der Chor der Wutbürger fängt an zu schreien, die Stimmen scheinen überzuschnappen, der Rhythmus wie Hammerschläge: „Kreuziget, Kreuziget, kreuziget ihn!“
Alles scheint drunter und drüber zu gehen, so jedenfalls ist es hörbar für alle in der Kirchenbank oder am Lautsprecher. Und doch hat Bach natürlich alles in Noten geschrieben.
Das Überraschende ist, weil es im Verborgenen offenbar wird: Die Kreuzigung wiederholt sich in der Notenschrift. Plötzlich wird in Tonarten notiert mit besonders vielen Kreuzen, plötzlich laufen Tonlagen gegeneinander und kreuzen sich, die ansonsten in ihren angestammten Höhen nebeneinander verlaufen. Kreuziget ihn!

ZoominZoomout – 19.1.2023

In einer industriellen Buchhandlung an den Regalen entlang schlendern. Ratgeber, Ratgeber, Einhörner, Furzkissen, Reise. Kein Regal für mich. So ist es eben. Aber ein Mädchen, vielleicht 10,11 Jahre alt, hockt mit Winterjacke und Schulranzen auf dem Rücken auf dem einzigen Stuhl und hat ein Buch auf den Knien aufgeschlagen.

Wenig später steht das Mädchen vor mir an der Kasse. Sie bittet die Verkäuferin um etwas. Die verpackt gerade ein Buch als Geschenk, schaut kurz auf, schüttelt den Kopf, bindet eine Schleife. Das Mädchen bittet erneut. Da öffnet die Verkäuferin eine Schublade, holt ein Päckchen Papiertaschentücher heraus und reicht ihr eines.

Schöne Erinnerung – Einmal Himmel und zurück

Musikalische Lesung: Jazz, Lyrik, Prosa in der Heilandskirche Dresden-Cotta
Lesung: Manuela Bibrach, Hans-Haiko Seifert
Musik: Anika Münch(Bass), Marie Hofmann (Gesang), Simon Seifert (Drums) und Tilmann Heller (Piano)
Danke an das Publikum, das zahlreich erschienen ist!
Fotos: Reiner Göldner

Wahrer Irrtum

Im Grunde hat SAX es richtig eingeordnet: Jazz Lyrik Prosa. Was nicht stimmt ist, dass Manuela Bibrach und ich musizieren. Dafür sind junge Musiker zuständig, die Simon Seifert aus Weimar, Leipzig und Dresden zusammenbringt.
Und zwar am 21. September.

Einmal Himmel und zurück

Jazz Lyrik Prosa

Wir freuen uns auf unsere Veranstaltung im Rahmen des Cotta Treffs der Dresdener Heilandskirche 

Am 21. September
Um 19:30 Uhr
In der Heilandskirche Dresden-Cotta

Mit Manuela Bibrach, Hans-Haiko Seifert und Musikern aus Weimar, Leipzig und Dresden

Einmal Himmel und zurück

Jazz Lyrik Prosa

Wir freuen uns auf unsere Veranstaltung im Rahmen des Cotta Treffs der Dresdener Heilandskirche

Am 21. September

Um 19:30 Uhr in der Heilandskirche

Mit Manuela Bibrach, Hans-Haiko Seifert und Musikern aus Weimar, Leipzig und Dresden

1. August – Erinnerung an den Warschauer Aufstand

Am 1. August 1944 begann der Warschauer Aufstand. Ich versuche mich an diesen opferreichen Kamp zu erinnern in den Marek-Kapiteln

„Ich war ja Funker in der Armia Krajowa.“
Plötzlich lachte Marek auf: „Ich habe sogar musiziert als Funker“, und nahm einen Schluck Warka.
„Wie kann man als Funker musizieren?“, fragte ich.
Er trommelte mit dem Fingerknöchel einen Rhythmus auf den Tisch. Tamm, da da da da, Tamm, Tamm, Tamm.
„Die Heroische von Chopin!“, sagte Joanna.
„Ja. Die Heroische war unser Erkennungszeichen. das Anfangsmotiv. So begannen unsere Funksprüche.“
Wir sahen zu, wie der Mann mit dem Funkgerät gerade fluchend in den Parkteich stieg, in Kleidung, um sein abgestürztes Modellflugzeug zu holen. Dann fuhr Marek fort:
„Gegen Ende August häuften sich bei mir die Notrufe der Eingeschlossenen. Die Deutschen hatten ja begonnen, Gebäude für Gebäude zu sprengen.“
Er schwieg und sah auf seine Flasche. Ich wagte es nicht, ihn etwas zu fragen.
Dann begann er:
„Während wir die letzten Brocken zur Seite wälzten, hörten wir, wie da unten gerade eine Messe gemurmelt wurde. Sie sangen: Kyrie eleison. Herr, erbarme dich. Dumpf drang es zu uns herauf, so dumpf wie aus einem Fass. Oder sprechen wir es deutlich aus: wie aus einem Grab. Kyrie eleison! Zwischen dem Herrn im Himmel und ihnen da unten lag ja noch eine gehörige Schicht Steine. Wir waren jung und noch nicht sehr abgebrüht, das kannst du mir glauben. Uns schauderte. Wahrscheinlich war ein Priester bei ihnen. Jedenfalls hörten wir Worte, die wir nie zuvor gehört hatten. Kennst ihr die Unbekannte Schulterwunde Jesu?“, fragte er uns. Aber selbst Joanna schien nichts von der Schulterwunde zu wissen:
„Nein. Keine Ahnung. Warum war sie unbekannt, die Wunde?“
„Ich weiß es nicht. Jedenfalls soll das schmerzhafteste Leiden Jesu seine Wunde an der Schulter gewesen sein, an der Stelle, auf der der Querbalken des Kreuzes gescheuert hat. Drei Finger tief. Bis auf die Knochen.“
„Was hatte das mit den Eingeschlossenen zu tun?“, fragte ich.
„Es war natürlich so… also, die meisten empfanden das jedenfalls so: Die alltäglichen Gebete schienen in Warschau nicht mehr zu helfen. Kyrie eleison. Und als sie glaubten, dass Gott diese Stadt längst verlassen hatte, kam irgendwann einer mit diesem alten, vollkommen unbekannten Gebet von der Schulterwunde. Ich weiß nicht mehr wie es geschah, aber plötzlich war es da und viele sprachen davon. Etwas wie die allerletzte Hoffnung. Ich denke, die haben sich ihm nah gefühlt dadurch.“
„Wem?“
„Jesus. Wir hörten den Priester da unten, oder wer immer es war, dieses Gebet sprechen: Ich bete Dich an, oh schmerzhafter Jesus und danke Dir für die schmerzlichste Wunde an Deiner Schulter!
Und gerade in diesem Moment haben wir den letzten Stein beiseite geschoben. Es war verrückt und du wirst es mir nicht glauben. Aber ist so gewesen.“
„Was haben sie…“, fragte ich zögernd.
„Sie waren still. Ganz still und schauten hinauf zum Licht. Warum riefen sie nicht? Warum schwiegen sie jetzt? Sie waren sicher geblendet und wussten nicht wer wir waren. Wer weiß, wann sie das letzte Mal Sonnenlicht gesehen hatten. Sie mussten schon lange da unten eingeschlossen gewesen sein.“
„Woher weißt du das?“
„Wir haben das sofort gerochen. Diesen Gestank. Das vergisst du nicht mehr. Ich hielt es nicht aus. Musste mich abwenden. Aber manche waren 43 schon dabei. Die Żegota-Leute. Die hielten was aus.“
„Żegota?“
„Auch Armia-Krajowa-Leute. Die hatten den Juden schon geholfen, 43, beim Ghettoaufstand. Die jedenfalls hatten alles schon gesehen.“
„Und dann?“
„Als erstes tauchte ein Kind auf in dem Loch, das wir freigelegt hatten. Nicht viel älter als ein Jahr. Aber es hatte das Antlitz eines alten Menschen, ganz weiß vom Staub und die Haut runzelig von Wassermangel und vom Kalk. So starrte es uns an, mit seinem kleinen Greisengesicht, die Augen weit aufgerissen, mit aufgeplatzten, blutig-roten Lippen, aber zu schwach um zu schreien. Gleich danach kroch seine Mutter ans Licht. Gierig griff sie nach einer Wasserflasche, die ihr jemand hinhielt. Zu unserem Entsetzen glich ihr Gesicht dem des Kindes. Sie setzte die Flasche an. Nie wieder habe ich jemanden so trinken sehen. Sie zitterte vor Anstrengung, weil sie sich so fest an die Flasche klammerte, aus Angst, jemand könnte sie ihr wegnehmen.“
„Und dann haben sie euch gedankt?“
„Sie haben uns beschimpft.“
„Aber warum!“, rief ich.
Marek zuckte die Schultern, erhob sich und kam mit Bier zurück.
„Da, Joanna, Grzegorz, ich geb einen aus. Hab heute Geburtstag.“
Es war der 23. April.