Advent in Warschau

Eine Leseprobe aus meinem Manuskript:

Ich stieg an der Trasa W-Z aus und da es regnete,  rannte ich mit gesenktem Kopf die Treppen hinauf und quer über den Schlossplatz. Doch mitten auf dem Platz stoppte ich vor einem silbrigen Schein zu meinen Füßen. Aus einer Pfütze schaute er mich an, jener Weihnachtsmond aus Kindertagen. Ich hob den Blick und entdeckte ihn, da hinten über Praga, nicht hoch über der Weichsel im regenschwarzen Winterhimmel.
Ansonsten war der Himmel schwarz. Dunkler als der Himmel war nur noch König Zygmunt Wasa hoch oben auf seiner Säule. Aber wie ich so hoch schaute zu ihm, wie er so seinen Säbel schwang, und damit die tiefhängenden Wolken traf, da platzte tatsächlich der Himmel auf, riss einfach auf wie ein morsches Gewand, klaffte wie eine Schnittwunde, aus der fortan wie Blut die Sterne sprühten.
Ich stand und sah es mit offenem Mund und konnte es nicht glauben und war doch sicher: solche Tage kommen in Jahrhunderten nur einmal vor. So folgte ich jener Himmelswunde, dieser Sternenspur. Sie führte direkt in die engen Gassen. Und wo die Giebel hoch oben sich trafen, da ließen sie genau jenen kleinen Spalt zum Himmel frei, durch den die Sternenspur in die Gassen leuchten konnte. Überall öffneten sich Türen, die Menschen steckten die Köpfe heraus, während die Kinder an ihnen vorbei auf die Gasse schlüpften und umherhüpfend auf den Himmel zeigten. Als jedoch ein Geschepper anhob, ein Geschleife und Gequietsche und Getrampel und Gedröhn, da eilten die Kinder ängstlich in die Arme der Eltern zurück. Ein unbeleuchteter Pferdeschlitten jagte durch die Gasse. Ein Kerl von einem Kutscher stand auf dem Bock. Ob er nun betrunken war oder ob er nur zu früh mit Schnee gerechnet hatte. Keine Ahnung. Jedenfalls zogen die schäumenden Pferde das Gefährt übers Pflaster und unter den Kufen stoben abermals die Funken wie Sterne.
Ich ging weiter, doch plötzlich war die Sternenspur verschwunden, einfach verschluckt von Wolken, die über die Dächer zogen, so wie all die Jahrhunderte zuvor. Sofort blieb ich stehen, so als hätte ich die Orientierung verloren. Auf der einen Seite der Straße ragte die gewaltige Fassade von St. Martin auf. Direkt neben mir jedoch war ein grober, runder Torbogen, wie aus einem Monolith gemeißelt, über einer alten Eisentür. Wie bei einer Kerkertür gab es in Kopfhöhe einen vergitterten Sehschlitz. Über der Tür wurde der Torbogen von einem Schlussstein begrenzt. Darauf konnte sich eine kleine Knabenplastik mit knapper Not halten, die Arme ausgebreitet, als spende sie Segen, wie das Christuskind, die Knie leicht gebeugt, wie vor dem ängstlichen Sprung vom Dreimeterbrett.

Kunstwerke im Abseits

Aus gegebenen Anlass: Wertvolle Kunstwerke finden sich an ganz seltsamen Orten wieder, wo sie nichts zu suchen haben. Eine Passage:

Der Milizionär aber begann zu brüllen und zu fluchen:
„Wariat zapierdolony!“ 

Die Lebendmaske August des Starken

Auf der Bank neben uns, keine zwei Meter in der Dunkelheit entfernt saß noch so ein Penner.
Er sah zu uns herüber und sprach mich zu meiner Überraschung in akzentfreiem Deutsch an:
„Ich kann Ihnen dolmetschen, was er gesagt hat.“
Das Wort dolmetsch verstand aber sogar der Milizionär.
Wütend leuchtete er ihm mit seiner Taschenlampe ins Gesicht und nun konnte auch ich in seine Augen blicken, freundliche Augen, die einst wach gewesen waren. Darüber sehr dichte Brauen. Eine gewaltige, gebogene Nase über einem fülligen Mund. Was waren das für Kleider! Sahen aus wie aus dem Museum geklaut.
Aber Würde hatten sie, mein Gott, Würde hatten sie. Eine hohe Pelzmütze auf dem langen zerzausten grauen Haar. Man sah ihr an, dass darin die Motten hausten. Ein roter Mantel, kompliziert geknöpft, zwei Knopfreihen von Messing, stumpf freilich, und irgendwie mit Lederbändern verbunden. Etliche Knöpfe fehlten, dann hingen die Bänder lose herab. Auch der Mantel muss einst mit Pelz besetzt gewesen sein, einige Pelzbüschel waren noch übrig. Auf die Brust hatte er sich einen Orden geheftet, eine Art Stern auf rotem Kreuz. Auf dem Stern klebte ein weißer Adler, der glänzte wie von Diamanten. Das war natürlich Glas oder irgendwas.
„Ich will Euch hier nie wieder sehen“, brüllte der Milizionär und verschwand.
Der Penner zog mich beiseite.
„Ich habe hier im sächsischen Garten Parkverbot. Ob du es glaubst oder nicht.“ Er lachte laut auf, was ich nicht verstand. Warum sollte ich es nicht glauben? Ich glaubte es ihm aufs Wort.
„Komm mit“, sagte der Penner. Wir überquerten die Marszałkowska, gingen die Dzielna entlang,
zwischen den schwarzen Hauswänden der Próżna hindurch. Am plac Grzybowski wusste er eine Bank, wo er sich sicher fühlte.
Er zog nun an einer Kette, die aus seiner riesigen Manteltasche hing und brachte triumphierend
eine bauchige Flasche mit schlankem Hals zum Vorschein, öffnete einen goldenen Verschluss
und reichte sie mir. Ich fühlte die fingerbreiten Rippen der Flasche und hielt sie gegen das
Licht einer Straßenlaterne. Edel geschliffenes Glas und sie leuchtete tiefrot, wie Rubin.
„Wo hast Du denn diese Flasche her!“
„Trink!“
Ich trank. Der Fusel biss in der Kehle und schmeckte wie Lösungsmittel.

Über die Grenzen

Wenn einer nicht mehr weiß, wie solche Grenzen aussehen und welche Gefahr sie bedeuteten: in meinem Manuskript überwindet der Protagonist von Warschau aus die innerdeutsche Grenze durch einen Trick und mehrere Zufälle. Lest selbst:

Es war der 15. August und wir fuhren mit der 175 die Żwirki i Wiguri entlang zum Flughafen Warszawa-Okęcie. Die Luft hatte sich über Nacht kaum abgekühlt. Dennoch fror ich. Was weiß ich, warum man an so einem Sommermorgen frieren konnte.Noch in der 175, so dachte ich,  konnte ich mich einfach zu Joanna drehen und sagen: nein, Joanna, ich kann es nicht, fahr allein! Noch auf dem Weg in die Betonhalle des Flughafens, selbst noch, nachdem sie zweimal unsere Pässe kontrolliert hatten. 
Noch immer konnte ich sagen: Joanna, flieg allein! Aber sie sah mich an, ergriff meine Hand und zog mich mit sich fort. An ihrer Hand wurde ich ganz ruhig und zuversichtlich und konnte ihr nunmehr bei ihrem Auftritt zusehen. Es war ein wirklich großer Auftritt, der Auftritt einer Schauspielerin auf der Bühne. 
Joanna hatte einen breitkrempigen Hut auf und zu beiden Seiten ragten ihre blonden Zöpfe hervor. Sie trug die Sonnenbrille, die ich ihr geschenkt hatte, einen ziemlich engen, bunt gemusterten, knöchellangen Rock und über der Schulter ein weites, seidenes Tuch voller greller, bizarrer Ornamente. Wie eine Königin ging sie neben mir her, so stolz wie eine Herrscherin über fremde, ferne Reiche, dachte ich, in denen die Sonne nie untergeht. Ihr Cello trug sie jetzt selbst auf dem Rücken und über ihrer Schulter hing der riesige Seesack. Außerdem lief sie barfuß. Natürlich zog sie alle Blicke auf sich, so wie eben eine Königin alle Blicke auf sich zieht. Das ist doch klar. So steuerte sie ohne zu zögern, wahrscheinlich weil irgendetwas ihr das so sagte, auf die traurigste Figur unter den Beamten zu. Auf einen der noch nicht einmal die erste Rasur brauchte, dem das fettige Haar unter der Uniformmütze hervorragte, vielleicht weil er verschlafen hatte, weil seine Mutter vergessen hatte ihn zu wecken oder weil sie ihn nicht mehr wecken wollte, um ihm zu zeigen, dass es Zeit wird, endlich auf eigenen Beinen zu stehen, mit Frau und Kind eben. 
Joanna schlang ihren rechten Arm um meinen Hals, wandte sich schließlich um und ging. Nun griff der Beamte nach meinem Pass, seine Blicke indes waren Joanna natürlich gefolgt. Er schlug meinen Pass auf, blickte unkonzentriert hinein, dann besann er sich und rief Joanna hinterher:
„Entschuldigung!“Joanna blieb stehen, drehte sich zu uns um und kehrte zurück. Sie hatte es übertrieben! Jetzt war er aufgewacht! Jetzt hatte er Verdacht geschöpft! Jetzt drohte Gefahr! Er holte ein kleines Heft aus einer Tasche seiner Uniformjacke und blätterte in dicht beschriebenen Seiten voller Unterschriften. Ganz sicher eine Fahndungsliste. So etwas.
„Ich wollte sie fragen: geben Sie mir ein Autogramm?“
Joanna nickte, nahm den Stift, den er ihr hinhielt, unterschrieb und ich sah, wie sie das J von Joanna wie einen Violinschlüssel malte. Er klappte das Heft zu. Auf den Umschlag waren rote Herzen und goldene Sterne geklebt. 
Schon konnten wir beide gehen und sie nahm meine schweißnasse Hand in die ihre.
Siebenundzwanzig Minuten später saßen wir im Flugzeug. 
Die Türen wurden geschlossen, endlich heulten die Triebwerke auf. Dann plötzlich wurde die Gangway noch einmal herangeschoben. Ein Mann im offenen, hellen Trenchcoat kam die Treppe hinauf gestürmt. Extra für ihn wurde die Tür wieder geöffnet. Niemand schien ihn zu beachten. Alle blätterten in irgendwelchen Zeitungen oder sahen aus dem Fenster. Nur ich vergrub mein Gesicht in der Lehne des Vordersitzes. 
„Grzeg, Lieber, was hast Du?“
„Gleich haben sie mich, Joanna!“
Der Mann eilte den Gang entlang direkt auf mich zu. Ich war sicher, dass er mich suchte. Und doch hatte ich ihn nie zuvor gesehen. Vielleicht sollte ich beten: Vater unser im Himmel. Weiter wusste ich gar nicht. Verdammt, das musst du lernen, dachte ich noch, da verglich er schon oben an den Gepäckfächern die Platznummern mit seinem Ticket, ließ sich zwei Reihen vor uns in seinen Sitz fallen, schnallte sich an, das Flugzeug rollte los, bog auf die Startbahn ein, beschleunigte und hob ab. Und wieder einmal konnte ein neues Leben beginnen! 
Irgendwann erkannten wir die Oder. Es konnte auch die Warta sein,  blinkend in der Sonne. Doch dann hörten wir zuerst ein Knacken und Pfeifen im Bordlautsprecher und schließlich eine Ansage. „Die Passagiere werden gebeten sich anzuschnallen, wir müssen wegen eines Unwetters über Düsseldorf Berlin anfliegen.“  Berlin! Berlin! Wir fliegen Berlin an! Von dort weiter mit dem Zug, oder was weiß ich, was sie sich jetzt für uns ausdachten. Aber  es war eigentlich egal: „Jetzt ist alles vorbei, Joanna! Jetzt haben sie mich. Knast. Es durfte eben nicht sein! Ich wusste es! Ich habe es gewusst“
Wir sahen uns lange an. Jetzt konnten wir nur noch warten.
„Wir landen in Westberlin“, sagte Joanna, „Bestimmt.“ Ich schüttelte den Kopf. 
„Das glaube ich nicht.“
Selbstverständlich landete das Flugzeug in Berlin-Schönefeld. Jetzt war ich geliefert. Ich sah sie schon kommen, wie sie mich in Handschellen abführten. Zwei Typen in Anoraks. So sehr ich auch nachdachte: mir fiel kein Ausweg ein. Die Maschine rollte auf einen abgelegenen Stellplatz und stoppte. Nichts passierte. In der Ferne erkannte ich den Fernsehturm. Die Sonne kam kurz durch die Wolken, beleuchtete wie ein Scheinwerfer  die gläserne Kuppel und bildete darauf ein Lichtkreuz. Wie um uns ein Zeichen zu geben. Aber es war natürlich kein Zeichen. Es war Physik, weiter nichts. Es war als müsste unsere Reise hier unten nur kurz Luft holen. Nur mal kurz. Gar keine Gefahr. Niemand schien sich um dieses Flugzeug zu kümmern. Vielleicht eine Stunde lang. Niemand. Dann begann die Stewardess,  kostenlose Getränke anzubieten. Joanna bestellte zwei kleine Flaschen Sekt, ließ sie aber geschlossen. 
Noch nicht!
Schließlich kündigte eine Durchsage den Start an. 
Noch nicht!
Die Triebwerke heulten wieder auf. 
Noch nicht!
Wir rollten erneut auf die Startbahn, und ohne vorher noch einmal zu stoppen, wie unter großer Eile, beschleunigte die Maschine und hob ab.
Jetzt öffnete Joanna die Flaschen und goss ein, während ich aus dem Fenster zusah, wie sich die Maschine ruckelnd durch die Wolkendecke hinaufarbeitete, die von Westen heranstürmte.
Immer wieder rasten Wolkenlöcher vorüber, die scheinbar nur aus dem einem Grund geöffnet waren, mir mein altes, graues Land da unten noch einmal vorzuführen, winzig und putzig wie in einer Spielzeugdose, in der Figürlein wie Wasserflöhe so klein auf und ab flitzten. Wie ruhig und selig konnte ich ihnen von meinem Sessel über den Wolken dabei zusehen. Wie planlos ihr Treiben war! Dabei wusste ich doch genau, dass es nichts gab, das sie ohne Plan taten! Sie erhoben sich nach Plan noch in der Dunkelheit aus ihren Betten,  stiegen nach Plan in ihre Busse und Autos, arbeiteten nach Plan, legten sich nach Plan wieder schlafen, verliebten, verheirateten und stritten sich nach Plan, bekamen nach Plan ihre Kinder und starben schließlich wieder nach Plan und das alles mit den gleichgültigsten Gesichtern, die ich aus der Höhe natürlich nicht erkennen konnte.
Dann kam ein Berg heran, eigentlich nur ein Hügel, eine Eisenbahnlinie umkreiste ihn bis zum Gipfel wie eine Murmelbahn einen Sandberg. Der Brocken! Das also war der alte Brocken? Und diese dünne Linie, die sich durch Wälder und Täler zog, quer durch ihre Dörfer, diese Linie, so fein wie ein Spinnweb, diese Linie ist also die Grenze, die sie alle so fürchten da unten und die sie so hübsch einhegt in ihrer kleinen Spanschachtel? Ich konnte es nicht glauben!
Und ach! Dass die Luken sich nicht öffnen ließen und ich ihnen allen ein Ade! zurufen und zum Abschied recht bitter auf ihre Untertanenscheitel spucken konnte! 
Das Flugzeug suchte sich einen Weg zwischen Wolkentürmen. In den dunkelsten von ihnen zuckten Blitze wie in Lampenschirmen.
Die Maschine ging in den Landeanflug über. „Sieh nur, der Rhein!“ Wir flogen schon ziemlich tief, zogen dann aber einen weiten Bogen…