Die leicht editierte Online-Fassung
Raus aus dem schlafenden Land
Wie ein Student die große Liebe und den Beginn des Aufstands in Polen erlebt.
Karin Großmann
07.01.2025, 11:30 Uhr
Dresden. Die Pförtnerin des Internats schneidet weißes Papier in gleich große Stücke und vernäht sie zu Büchern. Eines schenkt sie Georg mit der Aufforderung: Schreib rein, was du erlebst. Das könnte auch dem Dresdner Autor Hans-Haiko Seifert passiert sein. Wie der Ich-Erzähler seines Romans „Joanna“ studierte er 1980 in Warschau. Georg verlässt die DDR, die er „das schlafende Land“ nennt, und während sich andere nach dem Westen sehnen, geht er in den Osten. In Warschau lernt er Kirchenleute, Kneipenwirte und Künstler kennen, eine schweigsame Galeristin, einen geschäftigen Fahrradhändler, einen rebellischen Rundfunkmann, einen philosophierenden Professor und einen mysteriösen Alten, der ihm etwas zusteckt: aufgerollte Zeitungsränder, auf denen ein gewisser Mendel seine Geschichte erzählt.
Wenn Opa doch ein SA-Mann war
Es ist die Geschichte der Warschauer Juden. Sie machten fast dreißig Prozent der Stadtbevölkerung aus, bis die Nationalsozialisten ins Land einfielen. Das Warschauer Ghetto wurde zum „Umschlagplatz“ für den Abtransport in die Konzentrationslager, der Aufstand gegen die deutschen Besatzer 1943 ein legendäres Zeichen des Widerstands. Das Schicksal Mendels und seiner Familie wird als berührender Roman im Roman erzählt. Immer wieder kreuzen sich die Wege von damals mit Wegen von heute: Die Geschichte lebt weiter. Sie ist nicht vergessen. Dazu braucht es keinen plakativen SA-Opa, dessen Foto der Student Georg ganz zufällig findet und sich fassungslos fragt: „War mein Großvater etwa hier in Warschau gewesen?“
Beobachtungen, die überzeugen und oft amüsieren
Der Autor Hans-Haiko Seifert, Jahrgang 1960 und in der IT-Abteilung eines Energieversorgers tätig, legt mit „Joanna“ seinen ersten Roman vor. Der Dresdner Thelem Verlag gibt Debütanten eine Chance. Das ist verdienstvoll. Seifert kann Figuren und Szenen bildhaft beschreiben. Er reiht Beobachtungen aneinander, die überzeugen und oft amüsieren. Darin spiegeln sich Erfahrungen des deutschen Studenten mit unterschiedlichsten Lebensbereichen des polnischen Alltags im Sommer 1980. „Irgendetwas, dachte ich, lag in der Luft.“ Die Struktur des Romans erinnert nicht zufällig an „Heinrich von Ofterdingen“ – Georg liest Novalis. Doch die Episoden bringen die Handlung nicht recht voran.
Der Stoff hätte für mehrere Bücher gereicht
Georg muss lange über Straßen und Plätze gehen, mit Bahnen fahren und Biere trinken, bis er endlich die Cellistin Joanna findet, in die er sich verliebt hat. Es dauert, bis sie ein Paar werden. Der Stoff hätte für mehrere Bücher gereicht. Zu poetischen Szenen des Anfangs, da in Dresden „der Sommer noch behäbig in den Weinbergen hockte“, kommen surreale hinzu. In einem labyrinthischen Bau geht Georg beinah verloren wie sein Pass. Das neue Dokument aus der ostdeutschen Botschaft gilt überraschenderweise für alle Staaten und Westberlin. In einer Mischung aus Angst und Euphorie begleitet Georg die geliebte Joanna nach Düsseldorf, wo sie fürs Musikstudium vorspielen soll. Wer aus dem Osten hätte dieses Angebot nicht genutzt? Es ist kaum zu glauben, dass beide sofort umkehren und nach Polen zurückreisen, als sie vom Streik auf der Gdansker Werft hören: „Sie brauchen uns jetzt zu Hause.“ Solidarnosc, die erste unabhängige Gewerkschaft im Ostblock, entwickelt sich zur landesweiten Bewegung für Demokratie und Freiheit.
Hans-Haiko Seifert: Joanna. Thelem Verlag, 400 Seiten, 24,80 Euro
SZ