Je weiter man nach Norden kommt, desto höher steigt die Temperatur. Niemand kann sagen woran das liegt. Im Elbtal waren es beim Start 34 Grad, im der Uckermark 36 Grad. War es eine Luftströmung die sich von der Sahara über Norden drehte oder vielleicht lag es auch am Betonofen der Autobahn.
Das Land wird plötzlich hügelig, aber im Norden türmen sich die Wolken und solche Wolken gibt es nur überm Meer. Aufgebauscht wie von Stürmen. Szczecin ist noch 20 Kilometer entfernt. Was weiß ich von Gartz. Nichts. Außer dass es wie Mescherin ist. Nur größer. Das Wichtige ist, dass Polen und Deutsche mit Gewinn für beide Seiten zusammen leben. Die Polen finden die 1A bundesdeutsch geförderte Infrastruktur in der Uckermark vor, wo alles aus Prinzip geschieht. Busse, Ärzte, Internet, Straßenbeleuchtung, obwohl niemand mehr hier wohnt. Die Deutschen indes, die hier ausgehalten haben, wissen die wohlhabenden kinderreichen stettiner Familien zu schätzen, die das Überleben der uckermärcker Dörfer in letzter Minute ermöglichen.
Aber Gartz ist nur fast wie Mescherin. Das ist der erste Eindruck. Der Charme der kleinen Siedlung überträgt sich nicht auf die größere. Verstreute Häuser. Teils mit Baumarkt-Chic renovierte Katen. Teils sind es die reichen Ackerbürger-Häuser: verziertes Fachwerk und ich ahne, dass der große Vorteil ihres Reichtums war, dass sie innerhalb der Stadtmauern wohnen konnten. Das hieß Sicherheit in den Nächten.
Aber die Polen leben noch nicht lang genug in diesem Ort. Sonst gäbe es nicht eine gewaltige Kirche in der Ortsmitte, die seit dem Krieg zerschossen ist, wie beinahe alle Kirchen entlang der Oder. Scharfschützen auf Kirchtürmen waren eine Gefahr für die anrückende Rote Armee. Wären die Polen eher gekommen, gäbe es jetzt eine Kirche. Katholisch natürlich.
Eine kleine Stadt, auf den ersten Blick so durcheinander, wie zufällig hingeworfen. Zum Essen eine kleine Runde mit dem Rad durch den Ort. Neubaublocks, neben Katen, wir wissen schon… Zwischen den Häusern Bauernschuppen und Ziegenställe. So auch in der Pommernstube. Ein Ziegenstall, ein Wachtelkäfig, ein künstlicher Felsen mit rattengroßen Metallameisen und einem Wasserspiel. In einem Raum eiert im Dunkeln ein knalllbunter, von innen beleuchteter Globus vor sich hin.
Die polnische Köchin brät mir wunderbare Stücke vom Oderhecht. Leider beherrsche ich wie immer die Gräten nicht.
Nach dem Essen ist es dunkel. Es sind noch immer 29 Grad. Eine kleine Runde durch den nächtlichen Ort. Schon klar, dass niemand mehr auf den Straßen ist. Das einzige noch erhaltene Stadttor ist angeleuchtet und neben der Tourist-Information stürmt ein wütender Hund ans Tor als ich vorbeifuhr.
Zweiter Tag
Es kann sein, das man sich der Ostsee in kleinen Schritten nähern soll. Keine Ahnung, was das für einen Sinn hat. Aber so geschieht es gerade.
Also von Gartz aus den Norden erkunden. Das ist nicht so falsch. Der nördlichste Punkt wahrscheinlich, an dem noch brandenburgisch gesprochen wird, in diesem weichen Idiom, das anscheinend entlang der Oder Freunde findet. Im strömenden Regen mit Rad zur Kaufhalle. Hier wird das Katenhafte, das Geduckte dieses Landstriches deutlich. Keine Ahnung, ob es Untertanengeist ist.
Aber irgendwie provinziell , so wie das Gespräch, das ich vor der Norma Kaufhalle mit anhörte:
Mein Großvater hat 1980 schon jesacht, 2017 kommen de Chinesen und machen die Welt kaputt, das durfte man damals ja nicht sagen. Aber lest die Bibel, hat er gesagt, da steht es.
Und nu? Guck dir die Schuleinführung von Nancien an: wir mussten als Großeltern draußen warten. Hatter alles gewusst, der griechische Philosoph, der Nostrodamus, das sagt mein Großvater schon.
Gut dass es heute Vormittag regnete, so konnte ich den dritten Teil meines Manuskripts fast abschließen. Gegen Mittag nach Szczecin, denn es war wie immer im Urlaub, die Regie-Stühle als Lesesessel zu Hause vergessen. Und so vergeht der erste Tag, welche zu kaufen. In den riesigen Betonarealen vor der Stadt: Decathlon, Cantorama und wie die Bau- und Krempelmärkte heißen… Niemand hatte die Regiestühle. „Ach sie meinen die zum Fischen…“ sagte eine Verkäuferin. Da wusste ich Bescheid. Dieser Sommer war ein Angelsommer und jeder brauchte Angelstühle…
Also Szczecin. Wenn man angesichts der Hafenkräne ans Meer denkt… Falsch. Man kann noch nicht einmal ans Haff denken. Das liegt noch etliche Seemeilen nördlich.
Ach, die Altstadt von Szczecin… das ist eine Geschichte für sich. Es stehen noch ein paar prunkvolle Renaissance-Fassaden. Aber die Steine der zerbombten Stadt sollen angeblich nach Warschau transportiert worden sein.
Immerhin das Schloss wieder aufgebaut. Da war ich 2006 schon auf jener wundervollen Reise auf den Spuren der Solidarność. Im Schloss gab es ein Gespräch und ein Abendessen mit dem Innenminister der ersten gewählten Regierung unter Mazowiecki, das war 1989, als in der DDR die SED noch regierte…
Mein eigentliches Ziel war die Fassade der neuen Philharmonie. Die Polen bauen sich Philharmonien – unglaublich. Wie wundervoll und überaus modern der Bau in Wrocław. Von Bildern kannte ich die Philharmonie in Szczecin. Wie eine weiße Kathedrale, frei und stolz, wie ein Fünfmaster unter weißen Segeln dachte ich. Die Wirklichkeit war auch beeindruckend. Ein klein wenig beeinträchtigt durch banale Verwaltungsbauten in der Nachbarschaft. In meiner Vorstellung hätte sie gleich am Hafen gestanden.
Zum Abendessen in ein polnisches Restaurant auf der deutschen Seite der Oder.
Eine sehr gut gewürzte Rote-Beete-Suppe, Barszcz, nicht zu verwechseln mit meiner polnischen Lieblingssuppe, die klare Rote-Beete-Suppe Botwinka. Danach die besten Pierogi, die ich je hatte. Sie wurden noch einmal gebraten.