Blog Ben Männel (Buchkomet)

Hans-Haiko Seifert erzählt die Geschichte von Georg, einem jungen Ostdeutschen, der 1980 nicht wie die meisten den Weg Richtung Westen wählt, sondern nach Osten aufbricht, nach Warschau, Polen. Dieser Perspektivwechsel ist schon auf den ersten Seiten wohltuend anders und zieht sich wie ein feiner roter Faden durch die gesamte Lektüre. Seiferts Roman ist in 67 Erzählungen gegliedert, die jede für sich stehen können, aber gemeinsam ein atmosphärisch dichtes Gesamtbild ergeben. Das funktioniert erstaunlich gut, auch wenn der Einstieg für mich anfangs nicht ganz leicht war. 

Zugegeben: Es hat bei mir ein paar Kapitel gebraucht, um mich auf die fragmentierte Struktur und die Vielzahl der auftretenden Namen einzulassen. Man wird direkt hineingeworfen in eine Zeit des Umbruchs, in eine fremde Stadt, in die Gedankenwelt eines Mannes, der selber noch nicht genau weiß, was er eigentlich sucht. Doch genau darin liegt auch der Reiz. Georg ist ein Suchender. Einer, der genug hat von der starren DDR-Realität, von Dogmen, Vorschriften, grauem Alltag. Er flieht, aber nicht aus Abenteuerlust, sondern aus innerer Erschöpfung und vielleicht auch aus einer leisen Hoffnung auf etwas anderes, etwas Echtes.

Was ihm in Warschau begegnet, ist vieles: Verwirrung, Sprachlosigkeit, Aufbruchsstimmung, Widerspruch, Herzlichkeit und Joanna. Die titelgebende Cellistin, die ihm kurz begegnet, deren Name er zunächst nicht kennt, deren Spur er bald zu verlieren droht. Ihre Begegnung ist kurz, fast flüchtig, aber sie reicht aus, um ihn auf die Suche zu schicken, nach ihr, aber auch nach Zugehörigkeit, nach Sinn, nach sich selbst. Die Liebesgeschichte zwischen Georg und Joanna ist dabei keine dramatisch inszenierte Lovestory. Sie verläuft nicht geradlinig, sondern bleibt von Beginn an offen und ungewiss. Das macht sie glaubwürdig und berührend.

Besonders stark ist der Roman in seiner Atmosphäre. Seifert gelingt es, das Warschau des Sommers 1980 mit all seinen Spannungen, Stimmungen und Kontrasten zum Leben zu erwecken. Zwischen aufgebrachten Hausfrauen, Musikproben, Nudeln mit Erdbeersoße und politischen Protesten entsteht ein lebendiges Bild einer Stadt im Wandel. Man bekommt nicht nur einen Eindruck vom politischen Aufbruch rund um die Solidarność-Bewegung, sondern auch vom Alltagsleben der Menschen, ihren Sorgen, Hoffnungen, ihrem Humor. Georg bewegt sich zunächst wie ein Fremdkörper durch diese Welt, doch mit jeder Episode taucht er tiefer ein. Er lernt, beobachtet, stolpert, versteht und wächst daran.

Was mich besonders beeindruckt hat, ist die Verbindung zwischen politischem Umbruch und persönlicher Entwicklung. Seifert verbindet beides auf eine Weise, die beeindruckt. Der große historische Kontext ist da, aber nie übermächtig. Vielmehr spiegelt er sich in den Begegnungen, in den kleinen Momenten, in Georgs innerer Wandlung wider. Auch die Rolle der Musik ist nicht zu unterschätzen. Sie ist mehr als nur ein ästhetisches Detail, sie durchzieht das Buch als eine Art verbindende Melodie, als Symbol für Zwischentöne, für das Unsagbare. Joanna ist Cellistin, Georg hört Eric Clapton, Musik ist Fluchtpunkt und Verbindung zugleich.

Stilistisch schreibt Seifert ruhig, manchmal fast lakonisch, mit einem feinen Gespür für Zwischentöne. Er beschreibt nicht überbordend, sondern setzt gezielt Akzente. Oft reicht ein kurzer Dialog, eine beiläufige Beobachtung, um viel auszusagen. Diese zurückhaltende, beinahe unaufgeregte Erzählweise passt perfekt zum Ton des Romans, sie lässt Raum für Interpretation, für eigene Gedanken. Manche Kapitel wirken wie kleine literarische Skizzen, andere wie Tagebucheinträge. Und doch ergibt sich ein stimmiges Gesamtbild, das gerade in seiner Fragmentierung eine besondere Intensität entfaltet.

Dass der Einstieg nicht ganz leicht ist, liegt vor allem an der Vielzahl an Namen und Figuren, die einem zunächst wenig Orientierung geben. Man muss sich ein bisschen treiben lassen, sich auf das Format einlassen, dann entfaltet sich die Kraft des Romans mit jedem Kapitel mehr. „Joanna“ ist kein Buch, das man mal eben wegliest, sondern eines, das wirken will. Und das tut es. Gerade weil es keine einfache Liebesgeschichte ist, sondern eine Geschichte über Sehnsucht, Fremdheit, Wandel und Begegnung.

Georg als Protagonist ist dabei angenehm unaufdringlich. Seine Unsicherheit, seine anfängliche Naivität wirken nie gestellt, sondern authentisch. Man nimmt ihm ab, dass er nicht genau weiß, was er will, dass er sich in einer Welt wiederfindet, die ihn überfordert, fasziniert und herausfordert. Er ist ein glaubwürdiger Träger der Handlung, keiner, der alles im Griff hat, sondern einer, der sich treiben lässt und gerade dadurch offen bleibt für Neues. Das macht ihn sympathisch.

Insgesamt ist Joanna ein feinfühliger und kluger Roman über eine Zeit des Wandels. Eine Geschichte über Aufbruch, Missverständnisse, leise Nähe und über das Suchen nach einem Platz in der Welt. Wer sich auf die fragmentarische Form einlässt, wird belohnt mit einem Roman, der mehr zeigt, als sagt, der spürbar macht statt zu erklären.